Filed under: Geschichten, Mal sehen | Schlagwörter: Absinth, Alibi, Alltag, Amphetamin, Amt, Angst, Auffangbecken, Aufzug, Augen, Bekannte, Bewohner, Blick, Bob, Calcium, Dachterrasse, Dinge, Drogen, Ego, Eingangstür, Energie, Entzug, Erdgeschoss, Erlebte, Existenz, Familie, Form, Fragen, Freund, Fruchtbowle, Geschichten, Gesundheitszustand, Glas, Hals, Hand, Haus, Hausverwalter, Herz, Ionen, Irre, Irrenhaus, Junkies, Kapitel, Katarina, Körper, Konseuquenzen, Kurve, Leben, Liegestühle, LSD, Magnesium, Möbel, Menschen, Mietparteien, Mund, Nagellack, Naseweise, Neugier, Nomalität, Oase, Paradiesvogel, Peace, Pflanzen, Planschbecken, Probleme, PSychatriesystem, Realität, Reinstoffe, Revoluzzer, Schikane, Sergej, Sessel, Silizium, Simone, Sofa, Spaß, Stockwerke, Straße, Tüte, Terrasse, Treppenhaus, Typ, verrückt, Viva Fidel, Vordermann, Wahnsinn, Witz, Wohnung, Worte, Wunsch, Zeit, Ziele
Ich lebe in einem Irrenhaus. Das ist kein Witz und auch kein Spaß, das ist der helle Wahnsinn. Hier leben so verrückte Menschen, Paradiesvögel, Junkies und so wenige normale Menschen, dass ich dieses Haus als Irrenhaus bezeichne, ohne mit der Wimper zu zucken. Kein bisschen!
Und weil ich ganz unten im Erdgeschoss lebe, begegne ich zwangsläufig früher oder später jedem Bewohner mindestens einmal. Bei manchen bleibt es bei diesem einem Mal, bei anderen würde ich es mir wünschen. Ich würde, aber nur „würde“, denn wenn ich mir etwas wünschen könnte, dann wäre es mein letzter Wunsch, dieses Irrenhaus und all seine Einwohner nie gesehen zu haben. Insgesamt gibt es hier 84 Mietparteien auf 14 Stockwerken zu je sechs Wohneinheiten. Im Treppenhaus stehen Pflanzen und im Aufzug lustige Sprüche sexgeiler Naseweise und spätpubertierender Revoluzzer. „Viva Fidel vs. Bums Fidel“, zum Beispiel. Oder „Fighting For Peace Is Like Fucking For Virginity“, welcher mir persönlich am Besten gefällt.
Wenn man mit dem Aufzug ganz nach oben fährt, erreicht man über eine Treppe die Dachterrasse, kurz „Terrasse“ genannt. Hier findet man im Sommer zahlreich die Bewohner des Hauses, auf Liegestühlen und Sofas sitzend, grillend oder in Planschbecken liegend. Auf den ersten Blick scheint alles normal in dieser Oase, aber auf den Zweiten entdeckt man zum Beispiel Sergej, der eine riesen Tüte raucht, oder Bob aus den Staaten, der seinen siebten Absinth hinunter spült, oder Simone, die anderen, staunenden Mädels ihre Nagellacke präsentiert. Das alles findet nebeneinander und mit jeglicher Normalität statt, so dass Sergej, mit Tüte in der Hand, zu Simone geht und sich über die neuesten Trends der Nagellackindustrie informieren lässt. Dann kommt die alte Frau Katarina daher, stellt eine ihrer verwirrten Fragen, nimmt sich ein Glas Fruchtbowle, die die Mädels zubereitet haben und geht weiter zu Bob, um ihn nach seiner Meinung über die Bedeutung des Wortes „interrogation“ auszuquetschen. Bob steigt natürlich sofort darauf ein, schüttet sich aber noch einen Schluck Absinth ins Glas, damit die Kehle feucht bleibt. So ungefähr findet das Leben in diesem Haus statt. Es ist wie eine große Familie. Man kennt sich, akzeptiert sich und hat sich sogar lieb.
Probleme gibt es nur mit unserem Hausverwalter. Dieser lässt sich immer neue Schikanen und Witze einfallen, mit denen er sein mickriges Ego auf Vordermann bringen kann. Leider nimmt ihn niemand mehr ernst. Nicht einmal Sergej, der ab und zu mehrere Tage am Stück auf LSD durch das Haus geistert. Er ist harmlos und von Herzen gut. Eines unserer Sorgenkinder. Wenn er trippt, klingelt er mal hier mal dort, wird hereingelassen und erzählt Geschichten, die entweder psychotisch oder total hirnverbrannt daher kommen.
Als ich Sergej das erste Mal sah, war ich gerade dabei, meine Möbel in meine Wohnung im Erdgeschoss zu bringen. Ich wuchtete einen viel zu überdimensionierten Sessel durch die Eingangstür, während Sergej meinen Gesundheitszustand zu analysieren versuchte. Erschöpft ließ ich mich auf den Sessel, der nun zumindest im Eingangsbereich meiner neuen Wohnung stand, nieder und hörte mir seine Rede an. Sergej starrte mir in die müden Augen, ließ mich meine Zähne blank zeigen und fasste mir an die Brust. Das einzige was ich von diesem seltsamen Typ mit seinem seltsamen Blick und dem rastlosen Körper bis dahin wusste, war, dass er sich Sergej nannte und auch in diesem Haus lebte. Was er über mich wusste und analysierte war jedoch noch viel weniger. Mir mangele es an Calcium, an Magnesium, an allem, insbesondere an Ionen. Lediglich meine Leber sein tipp topp in Form, was mich überraschte, weil ich vor allem deshalb so erschöpft und apathisch seinen wirren Worten folgte, weil ich am Vorabend meinen Auszug mit Pauken und Trompeten und zu viel Alkohol gefeiert hatte.
Da stand also plötzlich Sergej vor mir und ich wusste nicht, ob er mich provozieren oder verarschen will. Mir war es egal und ich fing an, ihn zu testen. „Ob er Ionen kaufen wolle“, habe ich ihn gefragt. „Oder Calcium in großen Mengen“. Sein Blick wurde plötzlich wild. Seine Augen fixierten mich, fraßen sich in mich und sein Mund wurde trocken. „Reinstoffe! Wenn ich Reinstoffe haben will, gehe ich zu meinem Freund. Der besorgt mir alles. Amphetamin, LSD, Silizium, Koks.“. Mit diesen Worten war mir klar, dass ich in die richtige Richtung getestet hatte. Wäre ich Polizist gewesen, sein Freund hätte ihm den Hals umgedreht. Aber Sergej hat keine Angst vor Konsequenzen mehr. Zum einen, weil er keine Ziele mehr hat und zum anderen, weil er ständig zugedrönt ist. Er lebt im hier und jetzt und hier und jetzt und hier und jetzt. Was aus Neugier und Spaß begann wurde zum Alltag, dann zum Alibi und schließlich zum Auffangbecken seiner gescheiterten Existenz. Nur seiner Intelligenz und seiner Herzensgüte hat er es zu verdanken, dass er immer wieder gerade noch die Kurve kriegt, bevor man ihn auf die Straße setzt. Zwar bezahlt ihm das Amt die Wohnung, aber ab und zu leistet er sich doch ein paar Dinge, die nicht tragbar sind. Und nur weil wir alle im Irrenhaus auch ein bisschen Irre sind, setzen wir uns für ihn ein und verschonen ihn vor der harten Realität, die ihn womöglich total ruinieren würde. Abgesehen von einem Entzug. Aber den will er nicht und so wäre er sicherlich nicht dauerhaft.
Ich tue mir schwer damit, ihn nicht dem eiskalten Psychatriesystem auszuliefern, aber andererseits fehlt mir die Energie, weil ich dann diesen Freund nicht alleine lassen wollen würde. Nach all der Zeit in diesem Haus, bin ich ein Teil von ihm geworden. Ich habe hier Dinge erlebt, die ich noch nie zuvor erlebt habe. Viele waren großartig, aber manche eben nicht. Und weil man hier nie seine Ruhe hat, findet man selten die Zeit, das Erlebte richtig zu verarbeiten. Für mich ist das Schreiben deshalb sehr wichtig geworden. Genauso wie die Zeit außerhalb, die ich mit Freunden und Bekannten aus aller Welt und überall genießen kann.
Jetzt ist es spät und ich werde ins Bett gehen. Wenn ich Lust habe, erzähle ich mal wieder was über das Irrenhaus, in dem ich Lebe. Es gibt auf jeden Fall noch viele spannende Geschichten. Allein Sergej könnte Bücher füllen, aber auch unser Hausvorstand haut viele unterhaltsame Vögel raus…
Filed under: Geschichten, Mal sehen | Schlagwörter: Anhänger, arm, überleben, Bad, Behinderung, Beine, Bett, Boden, Brief, Deutschland, Eingang, Essen, Fahrrad, Fahrräder, Fenster, flüchten, fliehen, Form, Gardinen, Gold, Hand, Hauseingang, Hinterhof, Hosentasche, Hunger, Jahre, Käse, Küche, Klebeband, Klo, Konrad, Krieg, Land, links, müde, Mülltonnen, Messer, Minuten, Morgen, Nazis, oben, Paket, Pauli, Postbote, rechts, Schlafzimmer, Schublade, Seiten, Sommer, Stern, stolpern, Stunden, töten, Türklingel, Teller, Thunfisch, Toastbrot, unten, vermissen, vierzig, Vogel, Wohnung, Wohnungstür, Wohnzimmer, Wurst, Zentimeter
Es war Sommer und Pauli schaute aus dem Fenster. Er blickte über den Hinterhof und sah die Mülltonnen, die abgestellten Fahrräder, die Gardinen in den Fenstern und den Postboten mit einem großen Paket unter dem Arm. Pauli rannte zur Wohnungstür und hinunter zum Hauseingang, wobei er beinahe über Konrads Fahrrad stolperte. Er nahm dem Postboten das Paket ab und brachte es in seine Wohnung. Das Paket stellte er auf den Boden des Wohnzimmers. Es war gut vierzig mal vierzig mal vierzig Zentimeter groß und mit braunem Klebeband verschlossen.
Pauli ging in die Küche und holte ein großes Messer aus der Schublade. Mit dem Messer in der Hand ging er zurück ins Wohnzimmer. Das Paket war nicht mehr da. Pauli suchte im Wohnzimmer, im Bad, im Schlafzimmer und im Klo. Die Wohnungstür war fest verschlossen. Das Paket war weg. Also brachte er das Messer zurück in die Küche. Da er Hunger hatte, machte er sich ein leckeres Toastbrot mit Käse und Wurst. Er spülte seinen Teller ab und ging zurück ins Wohnzimmer.
Dort stand ein großes Paket auf dem Boden. Pauli musterte es von allen Seiten. Es war das gleiche Paket, das er vor wenigen Minuten noch vermisst hatte. Um es dieses Mal nicht wieder suchen zu müssen, nahm er das Paket und brachte es in die Küche, wo er aus der Schublade ein großes Messer holte. Mit dem Messer schnitt Pauli das Klebeband durch. Oben, rechts, unten und links. Dann war Pauli müde und er ging ins Bett.
Am nächsten Morgen wurde Pauli von der Türklingel geweckt. Er rannte hinunter zum Hauseingang, wobei er beinahe über Konrads Fahrrad stolperte. Vor der Tür stand der Postbote mit einem großen Paket unter dem Arm. Pauli nahm das Paket entgegen und brachte es hinauf in seine Wohnung. Er stellte das Paket auf den Boden des Wohnzimmers. Ihm fiel ein, dass er noch gar nicht geschaut hatte, was sich in dem anderen Paket befand.
Pauli ging in die Küche und öffnete das Paket, das er am Vorabend dort hatte stehen lassen. In dem Paket waren ein kleiner Anhänger und ein Brief. Der Anhänger hatte die Form eines Sterns und war wohl aus Gold. Pauli steckte den Anhänger in seine Hosentasche. Dann öffnete er den Brief und laß ihn laut vor:
Lieber Pauli, du musst schnell aus Deutschland flüchten. Die Nazis kommen und werden dich töten, weil du anders bist. Da Pauli Hunger hatte, ging er in die Küche und machte sich eine leckeres Toastbrot mit Käse und Thunfisch. Durch das Essen wurde er müde und so legte sich Pauli in sein Bett.
Ein paar Stunden später stand er wieder auf. Er ging ins Wohnzimmer und sah ein großes Paket auf dem Boden stehen. Er dachte kurz nach, dann ging er in die Küche, um ein großes Messer zu holen. Als Pauli zurück ins Wohnzimmer kam, war das Paket verschwunden. Da ihm all das bereits passiert war, blieb Pauli einfach stehen, bis das Paket wieder auftauchte. Er öffnete es und fand darin einen kleinen goldenen Anhänger in Form eines Vogels und einen Brief.
Pauli öffnete den Brief und laß ihn laut vor: Lieber Pauli, du musst schnell aus Deutschland flüchten. Die Nazis werden kommen und dich töten, weil du anders bist. Da rannte Pauli schnell hinunter zum Eingang, stolperte über Konrads Fahrrad und landete gesichtvoraus auf dem Boden. Er riss sich wieder auf die Beine, rannte zur Tür hinaus auf den Hinterhof und verließ das Land für immer. Pauli wurde trotz seiner Behinderung 53 Jahre alt und überlebte den Krieg.